Vom Lockdown zum Burnout
Viele von uns arbeiten während des Lockdowns von zuhause. Man richtet sich den Arbeitsplatz mehr oder weniger ergonomisch am Wohnzimmertisch ein, sieht die Kolleg:innen nur noch im Videochat und freut sich über das Klingeln des Paketdienstes, um wenigstens die Illusion von Besuch zu haben.
Manche kommen mit der Situation gut zurecht, anderen geht die Isolation stark an die Substanz. Neben dem persönlichen Abstand stellen auch die technischen Aspekte eine Hürde da, die nicht für jede:n einfach zu überwinden ist.
Während der private Umgang mit WhatsApp und E-Mail im eigenen Tempo stattfinden kann, muss man im Job ständig erreichbar sein und wird oft auf verschiedenen Kanälen parallel kontaktiert.
Im Büro ist für jede:n sichtbar, dass man gerade Besuch hat und am Telefon kann der Zweitanruf abgeschaltet werden. Im Home Office aber ermöglichen Teams, Zoom und Co Dutzende simultan laufende Chats, ohne dass das Gegenüber darüber informiert wird. Dementsprechend erwartet der Mensch – oder drei Menschen, oder 10 – am anderen Ende der Datenleitung manchmal die alleinige Aufmerksamkeit.
Dieser Wechsel von einigermaßen verwaltbaren Interaktionen zum mehr oder weniger zügellosem Chaos ist das, was auch unseren geschätzten Lehrer:innen gerade widerfährt. Sie wurden aus dem Präsenzunterricht gerissen und finden sich in den eigenen vier Wänden mit einer neuen, oft überfordernden Arbeitsweise konfrontiert. Was für Digital Natives relativ problemlos aussehen mag, stellt die – man möge mir den Ausdruck verzeihen – älteren Semester vor unlösbare Aufgaben.
Für diejenige Leser, die sich ein wenig mit World of Warcraft auskennen, hier ein kleiner, hoffentlich passender Vergleich: bisher hat man in den Todesminen als Tank eine gemütliche 5er-Gruppe geleitet. Eines Abends aber loggt man sich ein, fndet seinen Char auf Level 60 vor und bekommt vom Gildenchef die Aufgabe, mit 39 fröhlichen Recken Tante Ony einen Besuch abzustatten. Als Raidleiter, versteht sich. Die Lernkurve ist gelinde gesagt steil. Sehr steil.
Für eine liebe Bekannte war diese Kurve zu steil. Mit WoW hat sie nichts am Hut, ihre Klasse – pardon the pun – ist Lehrerin, ihre Skills Mathe und Sport.
Auch sie gehört zu der Altersgruppe, die nicht mit Computern aufgewachsen ist und die den PC bisher nur zur abendlichen Vorbereitung des morgendlichen Unterrichts nutzen musste. Mit viel Eigeninitiative und gelegentlicher Hilfe gelang ihr dies auch ganz gut.
Seit dem Lockdown aber muss sie nicht nur Mails beantworten und Dokumente verfassen, nun läuft auch der Unterricht selbst über die neuen Medien. Konferenzen mit über 30 Schüler:innen inklusive Gruppenarbeit in getrennten Chat-Räumen, Upload des Lernstoffs in Moodle oder Teams, nebenbei Klassen- und Kollegiumsgruppen in WhatsApp.
Man könnte meinen oder besser hoffen, dass es dazu ausführliche Trainings und Arbeitsanweisung seitens der Schulleitung gegeben hätte. Nun, dem ist in diesem Fall leider nicht so, wie wahrscheinlich auch in vielen anderen Fällen. Sie und ihre Kolleg:innen wurden relativ planlos vor vollendete Tatsachen gestellt und mussten sich in den neuen Gegebenheiten zurecht finden.
Natürlich kann man von gebildeten Menschen eine gewisse Anpassungsfähigkeit durchaus erwarten und auch verlangen. Wunder dauern allerdings bekanntermaßen etwas länger und wenn man als Lehrkraft auf dem unbekannten Spielfeld den Schüler:innen – in Bezug auf den Umgang mit den schon erwähnten neuen Medien – weit unterlegen ist, kommen Frust, Verzweiflung und Resignation auf.
In WoW endet der Raid im Wipe, im realen Leben der Stress im Burnout.
Nach wenigen Wochen digitaler Überforderung musste meine Bekannte die Notbremse ziehen, sie war der Umstellung nicht länger gewachsen. Nun ist sie auf unbestimmte Zeit arbeitsunfähig und bedauert, dass sie “ihre” Klasse nicht weiter betreuen kann.
Dies ist nur ein Beispiel, welches ich persönlich miterlebt habe. Die Pandemie und die dadurch bedingten Veränderungen in unserem Zusammenleben werden aber zweifellos viele körperlich gesunde Menschen an den Rand der geistigen und emotionalen Leistungsfähigkeit bringen. Diese Menschen brauchen unsere Hilfe, denn nicht jede Art von Unterstützung gibt es auf Rezept.